„Mein lieber Herr Gesangsverein“, keuche ich. Keuchen geht gerade noch. Das wars dann aber auch. Obwohl, Je länger ich darüber nachdenke ...
Okay, ich korrigiere. Seufzen, Ächzen und Stöhnen sind ebenfalls weiterhin machbar. So gerade eben noch. In dieser körperlichen Verfassung quäle ich meinen maladen
Mittfünfziger-Leib die Treppe hoch. Im verschärften Zeitlupentempo, eine Stufe nach der anderen. Ein langer Tag liegt hinter mir. Noch länger als sonst und härter als je zuvor. Ich hätte nie gedacht, dass noch mehr Stress als unser tagtäglicher allen Ernstes möglich ist, denn ich bin Haubentaucher. Der Beruf des Haubentauchers gilt als einer der härtesten und verantwortungsvollsten Jobs der Welt. Ohne Menschen wie uns wäre dieser Planet schon lange verloren. Auf keinen Fall zu verwechseln mit den gleichnamigen Vögeln, die sie nicht nur umweltpolitisch vergessen können.
Diese Tiere fühlen sich traditionell ausschließlich der Ausübung der drei großen „B.“ des
Wasservogelmilieus verpflichtet. Balzen, brüten und blöd in der Gegend rumschwimmen.
Auf diesen Gebieten allerdings gelten die bei Lichte betrachtet gar nicht so tumben
Schwimmhautbenutzer fraglos als Koryphäen. „Du glotzt wie ein Haubentaucher!“ ist im
Tierreich also keine reine Beleidigung. Eine Spur Bewunderung schwingt bei diesem Ausdruck auch immer mit.
Wir menschlichen Haubentaucher befreien dagegen Gewässer aller Art von Hauben aller
Art. Meist handelt es sich eher um kleinere Objekte wie Dusch-, Bade-, oder
Kaffeehauben. Doch heute mussten wir schon vor der Mittagspause drei schwere Sturmhauben aus dem ersten Weltkrieg, zwei Motorhauben und eine ganz besonders verrostete Dunstabzugshaube nach oben befördern. Da fielen die 42 Kochhauben und die verrostete Kühlerhaube am Nachmittag kaum noch ins Gewicht. Der Tag war zu diesem Zeitpunkt schon gelaufen.
Der reine Wille schleppt meine Körperhülle noch weiter. Lediglich der Gedanke, in wenigen Augenblicken auf unser verlockend weiches Federbett fallen zu dürfen, hält mich noch aufrecht. Doch dazu kommt es nicht.
„Bauerpfännchen reich an Leber“, hallt eine unüberhörbare schnarrend Stimme durch den Hausflur. Sie kommt ganz eindeutig aus unserer Küche und bahnt sich durch die sperrangelweit aufstehende Eingangstür unserer Wohnung ihren Weg in den Hausflur. Nein, ich bin kein Hellseher. Diese Stimme würde ich aus Tausenden heraushören. Ihr unverwechselbarer Klang verrät sie als die meines Protagonisten Sammy Kater.
„5 Komma 5 Prozent Fettanteil!“, fügt Sammy nicht ein Phon leiser hinzu.
„Gewonnen“, dringt ein anderes, mindestens genauso enervierendes Sprechorgan an meine nicht nur unterdruckgeplagten Ohren. „Marke Hofladen. Rind für Naturgänger. 8 Komma 3.“ Das Organ gehört Hennes, unserem dienstältesten Hauskater. Anscheinend gilt die fetthaltigere Futterspeise als wertvoller. In der heutigen Zeit eher unüblich. Ich unterbreche meinen Aufstieg kurz, zucke dann mit den Achseln. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Als dienstältester Hauskater nimmt er in der Tradition meiner westfälischen Wahlheimat eine Stellung ein, die vielleicht am Ehesten mit der eines Familienoberhaupts zu vergleichen ist. Sein Wort zählt.
Ich erreiche die Küche. Wie erwartet sitzen die beiden Kater mit ihrem minderjährigem Artgenossen Udo am Küchentisch und spielen Katzenfutter-Quartett. Kartenspiele sind ebenso archaische wie weit verbreitete Arten von Gesellschaftsspielen im Pelztiermilieu.
Computerspiele nutzen sie kaum. Einzige, wenn auch keineswegs rühmliche Ausnahmen:
„Mäusejagd“ und ein eigentlich verbotenes Spiel mit dem ebenso zynischen, wie unnötig komplizierten möchtegern-innovativen Namen „Wer flog denn da, bevor ich ihn fing(k)?“
„Hallo“, rufe ich heiser und wanke auf die Pelztiere zu. Keine Antwort. Wenigstens unterbrechen sie ihr Spiel. Sammy hebt den Kopf. Wortlos steht er auf, springt ansatzlos auf die Anrichte, schnappt sich ein Buch und blättert darin. Das Buch kenne ich. Sein Autor? Ich.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung direkt aus dem Pfotengelenk pfeffert der Kater meinen ganzen Stolz - verfasst mit jedem Tropfen Herzblut, den ich habe - brutal auf die Tischplatte.
„Wo hast du den Schwachsinn denn her?“ Sammy schaut mich an. Die Kälte in seiner Stimme lässt mich frösteln. „Katzen können nicht sprechen. Kein Tier kann das! Das weiß doch jedes Kitten!“
Fassungslos erwidere ich seinen Blick. Die Augen des Katers funkeln. Verzweiflung steigt in mir hoch. Abgrundtief. Ein Gefühl, das ich in dieser Intensität noch nicht erleben musste.
„Aber natürlich können Tiere sprechen, Sammy! Du selbst bist das beste Beispiel. Du kannst sprechen! Sonst hättest du mir doch eben auch nicht antworten können!“ Ich bin froh, meine Antwort halbwegs unfallfrei über die Lippen bekommen zu haben. Mit einer Mauer zu diskutieren, könnte kaum unangenehmer sein. Oder mit einem pubertierenden Rauhaardackel. Die gelten als besonders beratungsresistent. Hennes und Udo sitzen aufrecht am Küchentisch. So, als hätten sie einen Stock verschluckt. Ihre
Blicke sagen mehr als tausend Worte. Ich sehne mich nach der Arktis. Deren Lufttemperaturen erscheinen mir gegen die Atmosphäre, die meine Kater verbreiten, behaglich warm. Ich würde fast von muckelig sprechen wollen.
Sammy richtet seinen bepelzten Oberkörper auf und schaut mir erneut ins Gesicht. Wortlos, sehr lange und verletzend fest. Er verzieht die Schnauze zu einem spöttischen Grinsen.
„Das zählt nicht. Ich bin fiktiv!“
Wumms! Das hat gesessen. Unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück.
„Schon“, starte ich einen erneuten Versuch, ihm mit vernünftigen Argumenten Paroli zu bieten, muss aber feststellen, dass meine Zunge nicht mehr so will, wie ich es gerne hätte. „Aber d- die Aussage meiner Texte ist doch viel wichtiger. Ich schreibe Fabeln. Auf diese
Art kann ich auch strittige Inhalte viel besser zum Ausdruck bringen als in traditioneller
Form.“ Ich atme tief ein und konzentriere mich, so gut es mir in dieser Situation möglich ist. „Außerdem sprichst du schon wieder mit mir. Wenn du nicht sprechen könntest, hätten diese Worte deine Schnauze niemals verlassen!“
Der Kater schaut an mir vorbei. Er fixiert den Küchenschrank. Das Einzige, das ich aus meiner Position konkret erkennen kann, ist die erschreckende Leere in seinen Augen.
Eine Leere, wie sie mir in dieser Form noch nicht begegnet ist.
„Katzen können nicht sprechen!“, wiederholt Sammy, „Du bist ein Betrüger, ein gewissenloser Scharlatan!“ Seine Stimme klingt schneidender, als je zuvor. Wäre sie ein Schwert, könnte sie einen Granitblock problemlos in tausend Stücke teilen.
„Ich spreche die Wahrheit“, fährt der Kater fort. „Das ist der aktuelle Stand der
Wissenschaft.“ Er schlägt mit der rechten Pfote auf den Tisch. „Feierabend!“ Mein Blick wandert in Richtung Küchentisch. Der ist weiterhin intakt. Sammys Schlag klang auch nicht sonderlich laut. Kein Wunder. Fell dämpft Geräusche.
Ich zucke mit den Achseln. Egal. Lärmunterdrückung durch Katzenfell ist jetzt nicht das
Thema.
Viel lieber würde ich erwähnen, dass der Stand der Wissenschaft vor zwanzig Jahren anders war als heute und in zwanzig Jahren wieder anders sein wird. Doch das wäre sinnlos. Sammy, Hennes und Udo wollen nicht diskutieren. Sie wollen nicht dazulernen oder sich wenigstens mit meinen Argumenten auseinandersetzen. Sie wollen Recht behalten.
Ihre Mienen wirken mindestens so versteinert, wie ein nach Jahrmillionen ausgegrabenes Ammonshorn oder das 32 Jahre alte Gummibärchen, das ich letzte Woche aus Versehen unter unserer Nachtspeicherheizung hervorgeholt habe.
„Hau ab!“, sagen ihre Mienen. „Hau ab“, fasst Sammy meinen Eindruck auch akustisch vernehmbar in Worte, „Lügner können wir hier nicht gebrauchen!“
„Genau“ piepst Udo, „unser Land braucht Leute mit Zivilcourage. So wie uns. Deshalb schmeißen wir dich raus. Um ein Zeichen zu setzen!“
Ich zögere eine Sekunde. Zivilcourage und in der warmen Küche sitzen und stressgeplagte Mittfünfziger auf die Straße zu setzen. Das sind für mich zwei verschiedene Dinge.
„Ähm, äh, war das nicht eigentlich meine Wohnung?“, versuche ich es trotzdem noch einmal, „So mit Miete zahlen und so?“
„Das hast du gut erkannt“, mischt sich Hennes ein. „Es war deine Wohnung. Früher war es deine Wohnung!“ Seine Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen: „Betrüger!“
„Aber die literarische Form, Fabeln zu schreiben ist uralt! Schon den alten Griechen war sie geläufig. Ich schreibe bewusst nicht jedes Ereignis eins zu eins auf. Ich will, dass meine Leserinnen und Leser mitdenken und meine Thesen aus dem vermenschlichten Tierreich in unsere Realität übersetzen. Das funktioniert auf humoristische Art viel besser als mit dick aufgetragener Moral und erhobenem Zeigefinger. Sie sollen sich selbst
Gedanken machen und trotzdem Lachen können.“
„Unsere Entscheidung ist alternativlos!“, piepst Udo. „Raus!“
Die Kater erheben sich. Ihre jeweiligen rechten Pfoten zeigen synchron in Richtung
Ausgang. Angesichts ihrer geringen Körpergröße kein besonders bedrohlicher Anblick.
Bedrohlich wirken ihre Blicke und ihre Entschlossenheit. Ihre heilige Wut, basierend auf Unwissenheit, Missverständnissen und der Unfähigkeit, eigene Fehlinterpretationen auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen.
Pharisäer!
Betont langsam drehe ich mich um und verlasse die Wohnung. Meine Wohnung. Mein eigener, von mir höchstpersönlich im Schweiße meines Angesichts erschaffener
Protagonist, hat sich gegen mich gewandt und meine geliebten Hauskater ohne Skrupel, Sinn und Verstand gegen mich aufgebracht. Absurd und doch der Klassiker. Ein Gleichnis des Lebens. In unserer Gesellschaft und wahrscheinlich nicht nur dort. Den Kopf gesenkt, schleiche ich die Treppe hinunter. Meine körperlichen Beschwerden sind wie weggeblasen. Stresshormone und seelische Schmerzen überlagern sie vorerst. Ich werde mir neue Protagonisten suchen müssen. Wendigere, innovativere, weniger von außen beeinflussbare. Ein letztes Mal durchquere ich die Außentür des Hauses, in dem ich fast zwanzig Jahre gelebt habe. Ich fühle nichts, als sie hinter mir zufällt. Ohne mich umzudrehen, laufe ich nur scheinbar zielstrebig weiter. Irgendwo steht eine Bank. Ich lasse mich auf ihre Sitzfläche plumpsen. Sie ist kalt, doch das spüre ich kaum. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, endlich meinen Platz im Leben zu finden. Ich habe ihn gefunden. Er ist unten.
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