top of page

Udos Weihnachtsbäckerei

  • Autorenbild: wunnc5
    wunnc5
  • 26. Dez. 2023
  • 13 Min. Lesezeit

Heiligabend. Ich fläze mich auf unserem nicht mehr ganz neuwertigen Plüschsofa und gähne. Im Fernsehen läuft „Wir warten aufs Christkind“. Zur Zielgruppe dieser Sendung gehöre ich schon lange nicht mehr. Seit 45 Jahren ungefähr. Eher noch etwas länger. Beim Christkind sieht es ähnlich aus. Heute habe ich sieben Stunden mit unserem widerspenstigen Weihnachtsbaum gekämpft. Mein linker Arm ist verstaucht, der Kopf verbeult, die Haut von tausend Tannennadeln zerkratzt. Von der geschundenen Seele ganz zu schweigen.

Irgendwann betritt Kalahari, die mit Abstand beste Frau der Welt, das Zimmer und streicht sanft über mein verschwitztes Haupthaar.

„Du bist ja ganz fertig, Schatz! Leg dich lieber hin! Das mach‘ ich schon.“

Ruhig schnappt sich meine Liebste den Baum. Drei, vier routinierte Handgriffe später, ich habe den Raum noch nicht verlassen, steht er. Einwandfrei. In seiner ganzen Pracht. Mitten im Wohnzimmer.

Dort befinde ich mich inzwischen nicht mehr. Sofa und Fernseher stehen im Nebenraum. Unser Kater Udo schleicht auf leisen Pfoten am Plüschsofa vorbei. Ich habe ihn noch nicht begrüßt, da hat er den Raum schon durchquert und zwängt sich durch die Öffnung unserer Wohnzimmertür. Der allergrößte Teil seines schmächtigen Katzenkörpers hat den Bestimmungsort bereits erreicht, lediglich sein üppig behaarter Puschelschwanz muss noch folgen.

Aus dem Fernseher ertönt Rolf Zuckowskis Lied von der Weihnachtsbäckerei, doch das ich bekomme kaum noch mit. Meine Gedanken sind woanders.

Ich sehe Udo. Er trägt weiße Bäckerkleidung, sein Puschelschwanz ragt durch ein Loch im Hosenboden hinten aus ihr heraus. Kein schöner Anblick, aber innovativ. Vor meinen Augen erscheinen weitere Tiere. Nacktmulle. Nur die Berufskleidung bedeckt ihre Blöße. Sie alle befinden sich in einer riesigen Halle. Um sie herum: Maschinen. Viele Maschinen. Viele, große, laute Brotmaschinen. Überall erblicken meine gleitbrillenunterstützten Augen Angehörige der traditionell kleinwüchsigen Nagergemeinschaft. Sie schütten Mehl in die Geräte.

„Stellt der Chef jetzt schon Yetis ein?“, ruft einer und zeigt auf meinen Kater. Die anderen Tiere lachen.

„Ich heiße Udo. Heute ist mein erster Tag. Allerdings bin ich kein Yeti. Ich bin ein Kater.“

„Bist du in ein Fass mit Haarwuchsmittel gefallen?“

Die Mulle lachen grölend. Manche schlagen sich dahin, wo man bei Menschen Schenkel erwarten würde.

„Wie heißt du nochmal? Haarald vielleicht? Nein, besser noch!“ Die fisteligen Mullstimmen überschlagen sich fast.

„Ich hab’s,“ brüllt einer: Haartmut! Er heißt Haartmut“

„Nein, Haarkan!“, ein anderer.

Jetzt bricht in der Fabrik alles zusammen. „Genau“, brüllt ein Tier mit besonders großer Mütze. „Und kommt aus Haarsewinkel!“

Sämtliche Nacktmulle rollen über den Boden und halten sich die viel zu kleinen Bäuche.

Udo schluckt. Nur nichts anmerken lassen. Er sieht sich in der Fabrikhalle um. Nacktmulle, wo man hinschaut. Er scheint tatsächlich der einzige Mitarbeiter mit intaktem Haarwuchs zu sein. Der Kater schluckt gleich nochmal. Sein riesiger, dicht behaarter Puschelschwanz ist Udos ganzer Stolz. Wer sonst hat solch ein außergewöhnliches Körperteil! Und die? Lachen ihn aus! Udo schüttelt den Kopf. Da steht er jeden Morgen eine Stunde früher als der Durchschnittsfauna-Angehörige auf, um als erste Aktion des Tages besonders renitente Insekten seines Lieblingskörperteils zu verweisen, es dann zu waschen, zu spülen und abschließend mit den wohlriechendsten und teuersten Pflegemitteln wie „Dekadent P“, („P“ für Pelz), „Duschdas de Luxe“ oder „4711 Comfort“ einzureiben. Auch wegen dieser Kosten ist er auf diesen Job angewiesen. Und das alles nur, um sich anschließend von diesem einfältigen, haarlosen Mullgesocks auslachen zu lassen? Was für Banausen! Während der Arbeit reißt sich Udo zusammen und ballt die Pfoten in der Bäckerdress-Tasche. Auf dem Rückweg nicht mehr. Täglich tritt er mindestens eine Mülltonne um. Manchmal zieht er auch einfach nur eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Nicht die feine englische Art. Udo weiß das. Aber sinnlose, rohe Gewalt ist manchmal gut für die Psychohygiene. Auf allerniedrigstem Niveau zwar, aber immer noch besser als zu platzen.

Die Stimmung wird im Laufe der Zeit nicht besser. Doch Udo bleibt stur. Er möchte sich aus dem Erlös seiner Arbeit eine Reise nach Gelsenkirchen gönnen. Sein Freund Hennes stammt von dort und hat nur Gutes erzählt. Vor allem über seinen Heimatstadtteil Feldmark. Hennes‘ Geschichten haben Udo neugierig gemacht. Er plant, einen mindestens dreiwöchigen Urlaub in der Emscher-Metropole zu verbringen und Hennes in der letzten Woche einzuladen. Ein ortskundiger Reiseleiter soll grundsätzlich von Vorteil sein, hat er gehört.

Udo beißt sich durch. Er arbeitet doppelt so viel wie seine allerdings auch jämmerlich schwachen Kollegen. Fünfzehn Zentimeter sind ja auch keine Größe für erwachsene Tiere. Bei Welpen würde er vielleicht ein Auge zudrücken, aber die arbeiten hier nicht. Andererseits sind die Körper der Kollegen schon von der Anlage her derart hänflingshaft konzipiert, dass es sich für ein Pelztier mit Format verbietet, seine körperliche Überlegenheit auszunutzen. Udo ist eben ein von Grund auf liebenswertes Tier. Außerdem möchte er seinen Job behalten und Körperverletzung mit Todesfolge gilt nirgends als gutes Argument für eine Weiterbeschäftigung. Dem kleinen Kater bleibt nichts anderes übrig, als sich zu wehren, indem er hin und wieder bewusst nacktmullfeindliche Aussagen in seine Schnurr- und sonstigen Haare brummelt und anschließend so tut, als hätte er nichts mitbekommen. „Lange Zähne und nichts dahinter“ zum Beispiel, oder „Keine Haare am Arsch, aber ‚Casablanca‘ furzen.“

Die genaue Aussage letzteren Satzes erschließt sich Udo zwar auch nicht so richtig - er hat ihn in ähnlicher Form einmal aufgeschnappt und dann spaßeshalber verändert -, aber er klingt beleidigend. Und nur darum geht es. Der Zweck heiligt die Mittel. Zu einer Annäherung der Streitparteien tragen solche Aktionen selbstverständlich nicht bei. Allerdings gibt er seinen Kollegen damit auch keinen Grund, ihn in Zukunft nicht zu mobben, was sich dementsprechend auch nicht ändert. Udo registriert dabei durchaus, wie sie peinlichst genau darauf achten, sich außerhalb seiner Pfoten-Reichweite aufzuhalten. Den großen, kräftigen Kater zu entlassen, fiele ihnen schon schwerer. Auch das weiß Udo. Bereits nach kurzer Zeit hat er sich unersetzbar gemacht. Trotzdem nagt ihre Missachtung an dem sensiblen Jungkater. Er möchte nicht nur als rein funktionierende Arbeitskraft geduldet werden, sondern auch als Tier gemocht und respektiert. Als Udo Boll, Gemütskater mit Puschelschwanz und Eulenblick. Eine Schwäche, einmal länger krank sein und er ist für seine Firma Vergangenheit. Auch das ist ihm bewusst.

Kurz vor Weihnachten dann der Super-GAU. Udo hat Fellwechsel. Innerhalb weniger Tage ist jeder Winkel der Fabrik mit Haaren übersät. Für Katzen nicht der Rede wert. Reine Routine. Doch der Nacktmull als solcher kennt keinen Fellwechsel. Für ihn, für sie, für sämtliche anderen Angehörigen seiner Spezies ist Udos Haarverlust ein Affront. Der Kater bekommt einen extra für ihn angefertigten Ganzkörper-Schutzanzug ausgehändigt. Attraktiv wie eine Duschhaube, nur größer und Alles in Allem nicht ansatzweise atmungsaktiv. Udo schwitzt wie ein Stier. Sein Aussehen spottet jeder Beschreibung. Diesen Eindruck bestätigen ihm die lieben Kollegen in Form von dümmlichen Witzen und handfesten Beleidigungen gerne.

„Müllsack mit Fellinhalt“ ist noch die netteste Beschreibung von Udos Arbeitsoutfit. In seiner Not erinnert sich der Kater an die Worte seiner gutmeinenden Freundin Liselotte aus Altenessen.

„Udo“, hat sie immer gesagt, „warum musst du dich so kaprizieren? Immer diese Extravaganz. Riesen-Puschelschwanz und so! Solche Ego-Trips hast du doch gar nicht nötig. Ich kenne einen guten Schäfer im Sauerland. Wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, schert der dich zum Sonderpreis!“

Allein der Gedanke an eine Schur erzeugt bei Udo Schüttelfrost. Wie würdelos! Was denkt Liselotte eigentlich, wer er ist? Er ist nicht irgendein hergelaufenes Tier mit Monsterbehaarung! Okay, Letzteres auch, aber in allerster Linie ist er Udo. Udo Boll, der stolzeste Kater Holsterhausens, Essens, Nordrhein-Westfalens, der ganzen Welt. Seiner ganzen Welt. Puschelschwanzträger aus vollem Herzen und tiefster Überzeugung.

Die Vorweihnachtszeit vergeht und dann ist er ist da, der Heilige Abend. Udos Lieblingsfest. Der kleine Kater hat seinen Dienst beendet, den Schutzanzug ausgezogen, die Fabrik verlassen. Niedergeschlagen sitzt er an der Bushaltestelle und versucht verzweifelt, sich auf Weihnachten einzustimmen. Unter diesen Umständen ein aussichtsloses Unterfangen. Er ist gerade im Begriff, die Kopfhörer des fast neuwertigen, pelztiergerechten MP-3-Players auf seinen wild überwucherten Spitzohren zu platzieren, als eine seltsam meckernde Stimme an sein Ohr dringt.

„Hey, Mister Puschelschwanz!“

Udo dreht sich um. Hinter ihm steht ein Ziegenbock. An seinem Rücken baumelt ein grau-melierter Rucksack. Das Tier lächelt freundlich.

„Ärger mit dem Fellwechsel?“

Der Bock hebt seinen rechten Vorderhuf und deutet auf die beindruckende Anhäufung von Pelzresten, in denen der Kater bereits nach wenigen Augenblicken schon wieder steht.

Udo nickt bedrückt.

Der Bock setzt seinen Rucksack ab, öffnet den Reißverschluss und zieht einen Stapel Prospekte heraus. Den obersten drückt er Udo in die Pfote.

„Dann ist heute ein guter Tag für dich!“, meckert der Hornträger, „Wenn dir einer helfen kann, dann ich!“ Er hält eine der Werbebroschüren in die Höhe.

„Mariannes Meister-Cut“, liest Udo.

„Marianne ist meine beste Freundin. Sie wird dir den besten Ganzkörper-Stufenschnitt der Welt verpassen!“

Der Bock zeigt auf Udos Pelz. „Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das eine Fellfrisur ist!“

‚Nein‘, denkt Udo, ‚ich hatte mich zu dem Thema eigentlich noch gar nicht geäußert.‘

Noch bevor er einen Widerspruch überhaupt in Betracht ziehen kann, fährt sein Gegenüber fort.

„Los, komm mit! So kannst du doch nicht rumlaufen. Schon gar nicht heute. Was sollen denn die Leute denken? Es ist Weihnachten!“ Der Ziegenbock zwinkert dem Kater verschwörerisch zu. Vielleicht eine Spur zu verschwörerisch, wie Udo findet. „Ich spreche mit Marianne. Mir hat sie noch nie einen Wunsch abschlagen können!“

Das Ziegenmännchen ergreift Udos Vorderpfote und schleift den konsternierten und mehr pro forma als aus Überzeugung mosernden Pelzträger in Richtung Friseurgeschäft. Mariannes angeblicher Freundschaftspreis ist längst ausgehandelt. Udo fragt sich, was Mariannes Feinde so bezahlen.

Der Kater sitzt tief eingesunken auf dem mit Abstand größten der geschäftseigenen Friseurstühle, als ihn der Klang von Mariannes Scherenklingen aus seinem Tran holt.

„Um Gottes Willen! Was mache ich hier?“

Panisch schreiend springt der Kleine auf, reißt sich den Friseurkittel vom Hals und stößt Marianne, den Ziegenbock sowie jegliches auch nur ansatzweise in Reichweite befindliches Mobiliar zur Seite. An der Ladentür angekommen, reißt er sie auf, springt auf die Straße und flüchtet.

Udo läuft und läuft und läuft. Er läuft um sein Fell, er läuft um sein Leben. Nichts wie weg hier! Erst nach zehn, zwölf, fünfzehn Minuten drosselt er sein Tempo und dreht sich vorsichtig um. Nichts! Er ist allein. Doch wo ist er allein? Die Dunkelheit hat längst eingesetzt. Im fahlen Licht der Straßenlaternen erkennt er die Umrisse grauer Mehrfamilienhäuser. Keuchend lehnt sich Udo an den Reifen eines Fiat Punto. Etwas klapprig zwar, aber seine viereinhalb Kilo Gewicht sollte er aushalten.

Udo schaut sich erneut um. Und jetzt? Unwillkürlich zuckt er mit den Achseln.

Nach und nach bekommt er seinen Atem wieder unter Kontrolle. Die Straße ist menschenleer, von Tieren ganz zu schweigen. Noch nicht einmal Regenwürmer, ein verirrter Tausendfüßler oder wenigstens ein Mitglied der sonst so umtriebigen Eichhörnchen-Community scheint sich in dieser tristen Umgebung aufhalten zu wollen.

Udo macht eine wegwerfende Pfotenbewegung. Das war’s dann wohl mit seinem Weihnachtsfest! Völlig allein in einer unbekannten Gegend. Gestrandet am Arsch der Stadt.

Der Kater sinkt auf den Bürgersteig. Seine Verzweiflung steigt. Er hat die Hoffnung auf ein halbwegs feiernswertes Fest schon fast aufgegeben, als er etwas hört. Ein leises Geräusch. Kurz darauf nochmal. Udo spitzt die Ohren.

„Frohe Weihnachten!“, ruft jemand. Die Stimme klingt dunkel und merkwürdig heiser.

Der Kater dreht sich um. Nur wenige Meter hinter ihm steht ein Mittfünfziger. Einsfünfundsiebzig groß, dreiundachtzig Komma drei Kilo Gewicht. Für Proportionen hat Udo einen Blick. Einen Röntgenblick. Dafür kann er nicht kochen und glaubt, Lachse kämen schon in Dillsauce zur Welt. Auch Udos Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Die Nase des mittelgroßen Herrn ist rot, der graue Anzug verschlissen.

„Frohe Weihnachten“, stottert Udo, „Ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Irritiert schüttelt er den bepelzten Katerkopf. „Was machen Sie hier? Und wer sind Sie überhaupt?“

„Es ist immer das Gleiche“, stöhnt der Anzugträger, dessen Gesichtsfarbe sich spontan der seiner Nase angepasst hat. „Meine Anwesenheit bemerkt kaum jemand. Fast so, als gäbe es mich gar nicht.“ Der Herr zieht seine Achseln betont lässig nach oben. „Man gewöhnt sich daran. Schade, aber so ist das Leben.“

Eine Lüge, wie Udo weiß. Die Gesichtsfarbe verrät sein Gegenüber. Sie hat die Nase längst übertroffen und leuchtet pumucklartig im fahlen Licht der Straßenlaterne.

„Okay. Das kann ich verstehen“, hakt Udo nach. „Meine Frage war aber eine andere: Wer sind Sie und was machen Sie hier? Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als würden Sie hierhergehören.“

„Ach ja, richtig. Entschuldigen Sie.“ Der Mittfünfziger schüttelt den Kopf. Nicht verneinend, eher verwirrt. Offenbar muss er seine Gedanken erst noch sortieren. Einen Augenblick später macht der Herr erste Anstalten sich zu sammeln. Er reckt den Oberkörper, legt beide Arme an die Naht seiner verschlissenen Hugo-Boss-Anzughose und ballt die Hände zu Fäusten.

„Entschuldigen Sie. Ich vergaß, mich vorzustellen. Ein Fauxpas, der mir in diesem Beruf eigentlich nicht passieren dürfte.“ Er streckt Udo die rechte Hand entgegen. „Gestatten, Koczorkowski, Engelbert Koczorkowski. Besser bekannt als der Geist der Weihnacht!“

„Der Geist der Weihnacht?“, flüstert Udo, während er Koczorkowski reflexartig die Pfote reicht. „Gibt es Sie wirklich? Sind Sie sicher? Ich habe da andere Informationen.“

Koczorkowski schaut den Kater an. Seine Meinung zu Udos Frage muss dieser nicht erst erraten. „Entgeistert“ träfe seinen Gesichtsausdruck gut. Trotzdem fährt der Kater fort. „Sie könnten ein Symbol sein, ein sich materialisierendes Gleichnis, oder so.“

Das hat Udo letztens irgendwo gelesen. Wo genau, hat er vergessen. Bei „Bibi und Tina“ aber wohl nicht. Egal, der Satz klingt cool. Richtig intelligent und gebildet. Darum geht es in unserer Gesellschaft, hat Udo bemerkt. Nicht intelligent sein, intelligent wirken.

„Wie bitte? Ich stehe persönlich vor dir. Aus Fleisch und Blut. Spürst du meine Hand denn nicht?“

„Vielleicht ist genau das das Problem?“, bringt der inzwischen doch leicht eingeschüchterte Udo gerade noch über die Lippen.

Engelbert schaut ihm sehr fest ins Gesicht.

„Ich denke, philosophische Diskussionen ersparen wir uns heute einfach mal. Es ist Heiligabend.“

Udo nickt. Eingeschüchtert ist er immer noch.

„Du fragst dich sicher, warum ich dir erschienen bin?“

„Ähm, na ja“, brummelt Udo, „so weit war ich eigentlich noch gar nicht.“

„Egal.“ Koczorkowskis Stimme wirkt jetzt noch eine Spur energischer, fast schneidend. Allgemein schneidend, nicht haareschneidend. Dieses Thema ist abgehakt. „Egal“, wiederholt der Geist der Weihnacht, „wenn es sein muss, beantworte ich auch nichtgestellte Fragen.“

Er dreht sich um und winkt ins Dunkel. Allerhöchstens einen halben Augenblick später hat sich eine hellblau-getigerte Plüschkatze zu ihnen gesellt. Ihre Augen leuchten schwarz-rosa, auch der Schnurrbart ist rosafarben. Da überrascht es Udo nicht groß, dass der Kopf zwischen ihren Ohren mit einem rosa Schleifchen geschmückt ist.

Der Geist der Weihnacht öffnet die Arme. Mit großer Geste zeigt er auf das Plüschtier.

„Das ist Kiki!“

„Angenehm. Ich bin der Udo.“

Seine Stimme klingt belegt. Das merkt der Kater selbst. Möglichst unauffällig schaut er sich um. Was ist hier eigentlich los? Versteckte Kamera? Nicht, dass hier gleich irgendein Fernseh-Witzbold aus den Rabatten springt und ihn später vor Millionenpublikum in einer Sendung aus der Stuttgarter Schleyer- oder der Essener Gruga-Halle bloßstellt. Udo beobachtet die Umgebung weiter sehr aufmerksam. Keine Anzeichen für eine heimliche Aufnahme. Nächster Test. Er kneift sich so unauffällig, aber auch so fest wie möglich ins eigene Fell.

„Au!“

Udo schreit auf. Sein Schmerz ist der Beweis. Das ist kein Traum.

Der Kater schaltet in den Smalltalk-Modus um.

„Und, Kiki?“, fragt Udo, „Alles fit im Schritt?“ In seiner Aufregung lacht er eine Spur zu hysterisch über den eigenen mageren Spruch. Udo bemerkt das und konzentriert sich darauf, eine seriösere Frage zu finden.

Seine Wahl fällt schlussendlich auf: „Was machst du eigentlich so beruflich, Kiki?“

Auch diese Frage ist kein Ruhmesblatt, aber irgendwas muss er jetzt sagen - zeitnah sagen - und etwas Besseres fällt ihm einfach nicht ein. Er schafft es sowieso nur so gerade eben, seine Aufregung halbwegs zu kaschieren.

„Das ist eine sehr gute Frage!“, antwortet die Plüschkatze völlig überraschend. „Ich danke dir!“ Kiki atmet tief ein. „Ich habe nach Abschluss der Sonder-Realschule für Plüsch-Pelztiere in Frintrop eine mehrjährige Ausbildung zum ‚Coach für ganz besonders aussichtslose Fälle‘ absolviert. Vorgestern habe ich sie mit ‚Summa cum Laude‘ abgeschlossen.“ Die Katze schnappt nach Luft. „Du wirst mein erster Klient sein.“

„Ja“, mischt sich Koczorkowski ein. „Es ist optimal, die allerschwersten Fälle gleich am Anfang zu betreuen. Das härtet ab!“

Bevor Udo widersprechen oder wenigstens eine etwas reflektiertere Einschätzung des Themas in ihr Gespräch einfließen lassen kann, verabschiedet sich der Geist. Knall auf Fall. Genau, wie er gekommen war. Ohne Vorwarnung verschwindet Engelbert im Dunkeln.

„Ciaoie,“ ruft er noch. „Fröhliche Weihnachtstage!“

Udo ist jetzt mit Kiki allein. Wie unangenehm! Der Jungkater spürt, wie das Blut in seinen Kopf steigt. Gut, dass sein Fell so dicht, dunkel und blickdicht ist.

„Kiki – der Name sagt mir doch was …“, stottert Udo, einfach um sich überhaupt irgendwie zu äußern. „Kiki und die starken Männer. Stimmt’s! Großartige Fernsehserie. Oder …“ Er fuchtelt unruhig mit den Pfoten. „Oder meintest du Kiki Langstrumpf? Hey, Kiki Langstrumpf, …“ trällert Udo. „Falleri, fallera, fallerhoppsassa. Ich mach‘, was mir gefällt!“

„Nein.“ Kiki winkt ab. Höflich, aber bestimmt. „Schau mal“, sagt sie. „Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich!“

Die Plüschkatze friemelt ein hellblaues Döschen aus ihrem Fell. „Ta-daa!“

Ein Blick und Udo fällt die Kinnlade herunter. Enthaarungscreme. Was soll das? Und für wen halten die ihn eigentlich alle? Für den Fußabtreter der Nation?

„Er hat Kiki seine Antwort noch nicht ins Gesicht schleudern können, da prustet die Plüschkatze schon los, wenn auch vielleicht eine Spur zu albern und hysterisch.

„Hast du wirklich geglaubt, ich schenke dir Enthaarungscreme?“, japst Kiki.

Udo zuckt mir den Achseln.

„Warum nicht? Die erste wärst du jedenfalls nicht gewesen!“

„War doch nur ein Sche-erz!“, grölt das Plüschtier. „In Wirklichkeit habe ich dir etwas viel, viel Besseres mitgebracht!“

Udo unterdrückt ein Stöhnen. Bei dem Entree sollte er nicht zu viel erwarten. Mehr Luft nach oben geht eigentlich nicht.

Kiki greift ein zweites Mal in ihr Kunstfell, nur diesmal tiefer. Es dauert einige Zeit, dann fördert sie ein gelb-schwarzes Kostüm ans Tageslicht.

„Das ist für Karneval. Man munkelt, du hättest dir schon als Kind ein Biene-Maja-Kostüm gewünscht.“

Kiki zwinkert dem verdutzten Kater verschwörerisch zu.

„Ja. Das schon.“ Udo nimmt Kikis Geschenk zögerlich entgegen. „Die Frage ist nur …“ Er schaut dem Plüschtier fest in seine rosa umrandeten Pupillen. „Komme ich mit einer Verkleidung als Biene heutzutage nicht in Teufels Küche? Bienen sind eine völlig andere Tierart. Nicht, dass jemand mein Kostüm als kulturelle Aneignung auslegt! Mir sind solche Spitzfindigkeiten egal. Für mich sind alle Lebewesen gleichwertig, da sollte man ihre Unterschiede nicht zu hoch hängen. Andererseits muss es ja nicht unbedingt sein, dass ich völlig ohne Not Ärger bekomme und irgendwann die komplette Insekten-Community am Hals habe, ohne sie vorher auch nur ansatzweise von oben herab angesehen zu haben …“

Ich nicke innerlich. Jetzt bin ich aber mal auf Kikis Antwort gespannt. Leider warte ich vergebens.

„Aufwachen, Carsten!“, unterbricht eine viel zu laute Stimme die Diskussion. „Wach auf!“

Ich schrecke hoch und öffne die Augen. Ich befinde mich wieder auf meinem Sofa. Vor mir steht Udo. Er hält einen grünen Kaffeebecher mit der Aufschrift „96. Unsere Stadt. Unsere Leidenschaft. Unser Verein“ in der Pfote. Mein Lieblings-Kaffeebecher. Udo reicht ihn mir. „Bitte schön, der Herr! Zum Wachwerden.“ Er lächelt. „Wenn du ausgetrunken hast, komm bitte ins Wohnzimmer! Soll ich dir von Kalahari ausrichten. Die Bescherung wartet!“

Ich richte mich auf, reibe mir die Augen und blinzle in Richtung Udo. Er trägt kein Biene-Maja-Kostüm.

„Danke.“

Ich nehme meinen Becher in Empfang, trinke aus Höflichkeit ein, zwei Schlucke und setze ihn wieder ab. Denn ich hätte da noch eine Frage.

„Ähm, Udo. Sag mal …“, setze ich an, beende meinen Satz aber nicht, sondern schaue zum zweiten Mal seine Richtung und versuche, möglichst locker und unbefangen zu wirken.

„Ja, Carsten?“

Der Kater erwidert meinen Blick. Nicht unhöflich, aber auch nicht völlig gelassen. Logisch, die Bescherung naht. Trotzdem: Diese Frage kann ich ihm nicht ersparen.

„Sag mal, Udo“, wiederhole ich, um Sicherheit zu gewinnen. „Arbeitest du eigentlich neuerdings in einer Brotfabrik?“

Meine Kenntnis der Nacktmullangelegenheit und deren Verlauf behalte ich aus taktischen Gründen vorerst für mich. Mal hören, was der Kleine sagt.

Udo nickt bedächtig.

„Ja, früher. Aber das ist lange her …“ Er wendet sich zum Schleichen. „Beeil dich. Die Bescherung wartet. Dann kriege ich endlich die Geschenke!“

Lange her … ich stutze, sage aber nichts. Udo ist noch keine fünfzehn Monate alt. Langsam rapple ich mich auf, platziere meinen nicht ganz unkorpulenten Best-, Silver-, oder Sonstwie–Ager-Körper aufrecht in der Mitte des Sofas und konzentriere mich auf den Kaffee. Vielleicht sollte ich mich doch mal wieder für längere Zeit zu Hause blicken lassen.

Udo dreht sich im bereits begonnenen Schleichprozess noch einmal zu mir um. Der Pelzträger grinst. Vordergründig wirkt er cool, doch seine hektisch bebende rosa Nase spricht eine andere Sprache.

„Komm in die Gänge, Carsten! Es lohnt sich. Unser Baum ist der Hammer! Kiki und ich durften ihn ganz alleine schmücken! So viel Lametta auf einmal hast du noch nie gesehen …“

 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

1 comentário

Avaliado com 0 de 5 estrelas.
Ainda sem avaliações

Adicione uma avaliação
Birgit Wunsch
Birgit Wunsch
26 de dez. de 2023
Avaliado com 5 de 5 estrelas.

👏👏👏 Ich liebe es

Editado
Curtir

Kniesels Welt

©2023 von Kniesels Welt. Erstellt mit Wix.com

bottom of page